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BILLIGKRANKENKASSEN
Gängelei im Wartezimmer
Von Alwin Schröder
"Sie sind in der falschen Kasse." Mit dieser Begründung lehnen Hamburger Ärzte Mitglieder einer Betriebskrankenkasse als Patienten ab oder behandeln sie schlechter. Folge einer umstrittenen Kampagne der Kassenärztlichen Vereinigung.
Hamburg - Von einem Hamburger Hautarzt wird einem Patienten während der Behandlung nahe gelegt, die Kasse zu wechseln, denn er sei zurzeit bei der "schlechtesten Krankenkasse Deutschlands" versichert. Als eine Mutter beim Augenarzt um einen Termin für ihren Sohn bittet, ist das Gespräch mit der Praxishelferin schnell beendet. Denn die Familie ist bei einer Betriebskrankenkasse (BKK) versichert. Mitglieder dieser "Billigkasse" würden nicht mehr behandelt, heißt es. "Ich kann Ihnen keinen Termin geben."
Etwas mehr Glück hat eine Dame, die von einem Orthopäden behandelt werden möchte und mitteilt, BKK-Mitglied zu sein. Aber sie solle 30 Euro zahlen, sonst bekomme sie keinen Termin, heißt es von der Arzthelferin. Aber dafür müsse man "kaum warten, und die Behandlung sei sehr gut". Ein anderer Orthopäde verunsichert einen Patienten mit der Aussage: "An ihnen verdiene ich in diesen zwanzig Minuten ganze drei Euro - als Akademiker könnte ich wohl etwas anderes erwarten." Für diese Fälle hat die Hamburger Verbraucherzentrale eidesstattliche Erklärungen der Patienten.
In der Hansestadt werden Mitglieder von "Billigkassen" wie zum Beispiel der Betriebskrankenkasse Mobil Oil seit einiger Zeit in den Praxen immer wieder gegängelt oder vertröstet. Ursache ist die Kampagne "Billig wird teuer" der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg (KVH), die eine neue Verteilungsregelung der ärztlichen Honorare beschlossen hat und in den Arztpraxen Faltblätter auslegt, auf denen behauptet wird, "dass niedrige Kassenbeiträge die Gesundheit gefährden" können. Denn "wer weniger Beiträge zahlt und trotzdem die gleiche Leistung erhält, lässt sich auf Kosten anderer versorgen."
Durch die Kampagne "Billig wird teuer" versucht die Kassenärztliche Vereinigung, eine Schieflage des Gesundheitssystems zu beheben. Denn 1997 durften sich die Betriebskrankenkassen der Allgemeinheit öffnen. Sie waren mit Beiträgen teilweise unter 12 Prozent konkurrenzlos billig, weil ihre bisherige - jüngere - Klientel nur wenig Kosten verursachte. Allein die BKK Mobil Oil konnte ihre Mitgliederzahl von 5400 im Jahre 1999 auf zurzeit mehr als eine Million steigern. Die AOKs verloren dagegen bundesweit in den letzten Jahren zwischen ein und zwei Prozent ihrer Mitglieder, Ersatzkassen oft sogar noch mehr.
"Der Arzt soll seine Patienten anlügen"
Dem Gesamtsystem wird dadurch Geld entzogen. Denn die Krankenkassen zahlen der KVH für jeden Versicherten eine "Kopfpauschale", mit der bestimme Leistungen eines Arztes vergütet werden. Aber diese Pauschale, die 1991 festgelegt wurde, fällt je nach Kasse sehr unterschiedlich aus. Die DAK entrichtet zum Beispiel 152,19 Euro, die Innungskrankenkasse (IKK) Sachsen-Anhalt jedoch nur 54,56 Euro. Das Verrechnungssystem ist kompliziert.
In Hamburg, der Stadt mit der höchsten Ärztedichte Deutschlands, gilt seit dem Sommer ein neuer Honorarverteilungsmaßstab (HVM), mit dem das Geld der vier gesetzlichen Kassenarten (AOK, Ersatzkassen, IKK- und BKK) an die Ärzte weitergegeben wird. Wegen der niedrigeren Kopfpauschale bekommt ein Arzt für die Behandlung eines "Billigkassen"-Patienten weniger Geld als für die gleiche Leistung an einem Versicherten einer Ersatzkasse. Dass die Ersatzkassen einen so hohe Kopfpauschale zahlen, rührt noch aus alten Zeiten, als sich nur Besserverdienende den Beitritt leisten konnten, dort mehr Leistungen bekamen und dementsprechend mehr Geld an die Ärzte abgeführt wurde.
Oft sind die "Billigkassen"-Töpfe eines Arztes wegen der Vielzahl der Mitglieder schon vor Ende eines Quartals leer, er muss den Patienten aber weiter - nun kostenlos - betreuen, denn aus finanziellen Gründen darf ein Mediziner eine notwendige Behandlung nicht ablehnen.
Also gab die Kassenärztliche Vereinigung ihren 3650 Mitgliedern Ratschläge, wie aus den unterschiedlichen finanziellen Beiträgen der Kassen Konsequenzen gezogen werden könnten: Den Ärzten werden "flexible Maßnahmen zur 'Ausdünnung' des Patientenstromes" empfohlen, also ein "Terminmanagement, das die Konsequenzen aus den unterschiedlichen finanziellen Beiträgen abbildet". Gleichzeitig wird auch zum "sukzessiven Aufbau von Freiraum für andere ärztliche Tätigkeiten, beispielsweise zur Befriedigung der Nachfrage im Selbstzahlerbereich" geraten.
"Auf Normaldeutsch heißt das: 'Wer in einer Kasse ist, die für ihre Versicherten eine höhere Kopfpauschale an die Kassenärztliche Vereinigung zahlt, kommt früher dran'", erklärt Christoph Kranich, Patientenberater bei der Hamburger Verbraucherzentrale. Wenn medizinische Gründe nicht dagegen sprächen, sei es "durchaus zulässig, Termine mit unterschiedlich langen Vorläufen zu geben", heißt es in dem 59 Seiten umfassenden Dossier weiter. "Dies sollte aber medizinisch und nicht mit Hinweis auf die unterschiedlichen Kopfpauschalen begründet werden." Kranich: "Anders gesagt: Der Arzt soll seine Patienten anlügen. Dass die eine sofort einen Termin bekommt und der andere erst in zwei Wochen oder Monaten, hat zwar harte finanzielle Gründe, soll aber medizinisch begründet werden."
"Wer nur Aldi bezahlen will, kriegt auch nur Aldi"
Die Kassenärztliche Vereinigung habe zwar Recht, wenn sie die enormen Unterschiede zwischen den Kopfpauschalen kritisiere, sagt Kranich. Aber die KVH-Kampagne sei "olitik am falschen Ort". Ähnlich argumentiert Thomas Fritsch vom Landesverband Nord der Betriebskrankenkassen: "Die Ärzte versuchen, ihre Ansprüche auf dem Rücken der Patienten auszutragen." Das Landessozialgericht hat über eine Einstweilige Anordnung gegen die Kampagne noch nicht entschieden.
Manche Formulierungen des Papiers wurden von der KVH mittlerweile entschärft. Einige Ärzte hätten die Kampagne missverstanden. Grundsätzlich steht man bei der Vereinigung aber zu der Aktion. "Wir wollen das Bewusstsein schaffen, dass der Trend zur Billigkasse die Versorgungsqualität verschlechtert", sagt Sprecher Stefan Möllers. "Billigkassen"-Mitglieder müssten wissen, "dass, wer nur Aldi bezahlen will, auch nur Aldi kriegt". |
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