Deutscher Roman 2

schweine_srq

Der Anblick des unsichtbaren Menschen

Und dann sprachen sie mich schuldig, und dann verurteilten sie mich fuer die Dauer von einem Jahr zu Unsichtbarkeit, beginnend am elften Mai im Jahre des Heils 2008, und sie brachten mich in einen dunklen Raum unter dem Gerichtsgebaeude, um das Zeichen an meiner Stirm anzubringen, bevor sie mich freiliessen.

schweine_srq

Zwei von der Stadt bezahlte Ruepel erledigten den Auftrag. Einer von ihnen stiess mich auf einen Stuhl, und der andere hob das Schandmal an meine Stirn.
"Es tut kein bisschen weh", sagte der Affe mit dem kantigen Kiefer und drueckte mir das Mal auf, und es fuehlte sich einen Moment lang kuehl an, weiter nichts.

schweine_srq

"Und jetzt?" fragte ich.
Aber ich bekam keine Antwort, und sie wandten sich von mir ab und verliessen ohne ein Wort dem Raum. Die Tuer blieb  offen. Ich konnte hinausgehen oder sitzen bleiben und vermodern, ganz wie ich wollte. Niemand wuerde mehr mit mir sprechen, oder mich auch nur eine Sekunde laenger anschauen, als es dauerte, das Zeichen auf meiner Stirn zu erkennen. Ich war unsichtbar.

schweine_srq

Sie muessen wissen,  dass meine Unsichtbarkeit rein bildlich zu verstehen war. Mein Koerper war weiterhin vorhanden. Die Menschen konnten mich zwar sehen - aber sie wuerden mich uebersehen.

schweine_srq

Eine abwegige Bestrafung? Vielleicht. Aber das Verbrechen war ja auch abwegig gewesen. Das Verbrechen der Kaltherzigkeit. Die Weigerung, mich meinen Mitmenschen zu offenbaren. Ich hatte es mir viermal zuschulden kommen lassen. Darauf stand ein Jahr Unsichtbarkeit. Die Anschuldigung war ordnungsgemaess beeidigt, der Prozess abgehalten und das Mal ordnungsgemaess angebracht worden.

schweine_srq

Ich war unsichtbar.
Ich ging hinaus, hinaus in die Welt der Warmherzigkeit.
Der nachmittaegliche Regen war schon vorbei. Die Strassen der Stadt trockneten, und die Haengenden Gaerten verstroemten den Geruch von Wachstum. Die Maenner und Frauen gingen ihren Geschaeften nach. Ich bewegte mich unter ihnen, aber niemand bemerkte mich!

schweine_srq

Wer mit einem unsichtbaren Menschen spricht, wird mit Unsichtbarkeit von einem Monat bis zu einem Jahr oder laenger bestraft, je nach Schwere des Vergehens. Darauf beruht das ganze System. Ich fragte mich, wie strikt diese Vorschrift befolgt wurde.
Ich bekam es bald heraus.

schweine_srq

Ich betrat einen Fahrstuhlschacht und liess mich bis zum naechstgelegenen Haengenden Garten in die Hoehe kreiseln. Es  war Nummer elf, der Kaktusgarten, und all die verwachsenen, absonderlichen Formen dieser Pflanzen passten gut zu meiner Stimmung. Ich kam auf der Landezone an und begab mich zur Kasse, um eine Eintrittsmarke zu kaufen. Eine Frau mit kaeseblassem Gesicht und leerem Blick sass hinter dem Tresen.

schweine_srq

Ich legte eine Muenze vor sie hin. Ein aengstlicher Ausdruck trat in ihre Augen und verschwand schnell wieder.
"Ein Erwachsener", sagte ich.
Keine Antwort. Hinter mir bildete sich eine Schlange. Ich wiederholte meine Bitte. Die Frau schaute hilflos nach oben, dann starrte sie ueber meine linke Schulter hinweg. Eine Hand wurde ausgestreckt, eine weitere Muenze wurde hingelegt. Die Frau nahm sie und gab dem Mann seine Eintrittsmarke. Er schob sie in den Schlitz und ging hinein.

schweine_srq

"Geben Sie mir die Marke", sagte ich kurzangebunden.
Ich wurde von anderen Wartenden beiseite gedraengt. Ohne ein Wort der Entschuldigung. So langsam begriff ich die Folgen meiner Unsichtbarkeit. Sie behandelten mich wahrhaftig, als koennten sie mich nicht sehen.

schweine_srq

Das hat andererseits auch Vorteile. Ich ging um den Tresen herum und nahm mir eine Marke, ohne dafuer zu bezahlen. Da ich unsichtbar war, konnte man mich nicht daran hindern. Ich warf die Marke in den Schlitz und ging in den Garten.

schweine_srq

Aber die Kakteen langweilten mich. Ein unbestimmtes Unwohlsein ueberkam mich, und ich hatte keine Lust mehr dort zu bleiben. Auf dem Weg zum Ausgang drueckte ich einen Finger gegen einen hervorstehenden Dorn bis ich blutete. Zumindest die Kakteen  nahmen mich noch zur Kenntnis. Aber nur um mich bluten zu lassen.

schweine_srq

Ich ging in meine Wohnung. Meine Buecher warteten auf mich, aber ich hatte keine Lust dazu. Ich legte mich der Laenge nach auf mein schmales Bett und betaetige den Energiesender, um die seltsame Traegheit zu bekaemfen, die  mich plagte. Ich dachte ueber meine Unsichtbarkeit nach.

schweine_srq

Sie wuerde kein so grosses Unglueck sein, redete ich mir ein. Ich hatte an anderen Menschen noch nie uebermaessig gehangen. War ich nicht ueberhaupt fuer meine Kaelte gegenueber anderen Lebewesen verurteilt worden? Was fuer ein Verlangen sollte ich also jetzt nach ihnen haben? Von mir aus sollten sie mich ruhig uebersehen!

schweine_srq

Es wuerde ein geruhsames Jahr werden. Schliesslich war ich von der Arbeit beurlaubt. Unsichtbare Menschen arbeiteten nicht. Wie sollten sie auch. Wer wuerde schon einen unsichtbaren Arzt aufsuchen, oder einen unsichtbaren Anwalt als Rechtsbeistand zu Rate ziehen oder von einem unsichtbaren Bueroangestellten ein Dokument abheften lassen. Also keine Arbeit. Natuerlich auch kein Einkommen. Aber Hauswirte nahmen keine Miete von unsichtbaren Menschen. Unsichtbare Menschen konnten tun und lassen, was sie wollten, und brauchten nie etwas zu bezahlen. Das hatte ich in den Haengenden Gaerten gerade bewiesen.

schweine_srq

Ich hatte das Gefuehl, die Unsichtbarkeit wuerde ein prima Witz auf Kosten der Gesellschaft sein. Die Strafe, die man mir auferlegt hatte, war nicht schlimmer, als ein zwoelfmonatiger Kuraufenthalt. Ich wuerde die Zeit bestimmt geniessen.

schweine_srq

Aber es gab gewisse praktische Nachteile. Am ersten Abend meiner Unsichtbarkeit ging ich in das beste Restaurant der Stadt. Ich wollte die ausgefallensten Gerichte bestellen, ein  hundert Zahlungseinheiten-Menue, und dann, wenn die Rechnung kam , in aller Ruhe verschwinden.

schweine_srq

Ich muss nicht ganz klar im Kopf gewesen sein. Ich bekam gar keinen Platz. Ich stand eine halbe Stunde lang am Eingang, und der Oberkellner, der so etwas offenbar schon viele Male erlebt hatte, lief immer wieder an mir vorbei. Mich an einen Tisch zu setzen, erkannte ich , wuerde mir auch michts nuetzen. Kein Ober wuerde meine Bestellung entgegennehmen. :huaixiao:

schweine_srq

Ich konnte in die Kueche gehen. Ich konnte mir alles nehmen, worauf ich Lust hatte. Ich konnte den Betrieb stoeren. Aber ich entschied mich dagegen. Die Gesellschaft besass Mittel und Wege, sich gegen die Unsichtbaren zu schuetzen. Es konnte natuerlich keine direkte Vergeltung geben, keine vorsaetzliche Verteidigung.  Aber wer konnte einem Koch widersprechen, der behauptete, niemand habe im Weg gestanden, als er einen Topf mit siedend heissem Wasser gegen die Wand schmiss. Unsichtbarkeit blieb Unsichtbarkeit und war ein zweischneidiges Schwert.

Ich verliess das Restaurant.

schweine_srq

Ich ass in einem Automaten-Restaurant in der Naehe. Dann nahm ich ein Robotaxi nach Hause. Maschinen missachteten Menschen wie  mich ebensowenig wie Kakteen. Doch ich hatte das Gefuehl, sie waeren schlechte Gefaehrten fuer ein ganzes Jahr.

Ich schlief schlecht.

woffen

Ja.gut